Saugbagger Marke Eigenbau
Ausgangssituation
Vier Männer liegen in orangener Arbeitskleidung auf dem Bauch ausgestreckt. Sie spähen in einen schmalen Spalt unter einer riesigen Betonplatte, stochern mit langen Eisenstangen in den Hohlraum, rütteln an zwei Plastikschläuchen, die ebenfalls unter die Betonplatte geschoben sind. Eine Handvoll weiterer Arbeiter verfolgt das Geschehen mit gewisser Anspannung. Der Saugbagger steckt irgendwo unter der Bodenplatte des neuen Stuttgarter Hauptbahnhofs fest. Ein Mitarbeiter verfolgt das besondere Gerät auf einem Bildschirm, ein schwarzer schmaler Schlitten Marke Eigenbau, mit dem das ZÜBLIN-STRABAG-Team aus einem Hohlraum kaum höher als eine Zigarettenschachtel über mehrere Wochen 40 t Splitt saugen wird.

Die Bodenplatte des neuen Stuttgarter Bahnhofgebäudes liegt über dem bereits seit 40 Jahren bestehenden S-Bahn-Tunnel. Das Deckengewölbe ist nur 30 cm stark. Um die gewaltige Betonplatte zu tragen, wird diese daher im Endzustand freitragend, lastfrei und in einzelnen Abschnitten hergestellt. „Dazu schütteten wir zunächst temporär eine Schicht Splitt auf, betonierten darauf dann die Betonplatte und spannten die Anker zur Verringerung der Durchbiegung“, erklärt Oberbauleiter Alexander Behrend. Dann wird der Splitt wieder entfernt, die Platte schwebt und der Hohlraum füllt sich später mit Grundwasser, und auf diese Weise liegt keine Last auf der Decke des S-Bahn-Tunnels. Die Herausforderung war die Entfernung des Splitts: Der Hohlraum unter der Platte ist nur 10 cm hoch – kein handelsübliches Gerät lies sich in diesem engen Spalt zum Absaugen des Materials einsetzen.
Salz oder Zucker als Füllstoff?
Wie löst man die Aufgabe? „Wir hatten dazu einige Ideen“, erinnert sich Alexander Behrend. „Eine bestand darin, als Füllstoff Salz oder Zucker einzusetzen. Beides würde sich dann im Wasser einfach auflösen.“ Aus Umweltschutzgründen war diese Lösung aber nicht umsetzbar. Nächste Idee: Wellpappenzylinder in Plastiksäcken, die sich dann mit Wasser füllen – auch das wurde verworfen. „Dann überlegten wir, es mit Sand, Kies oder Splitt zu versuchen – und das Material am Ende dann einfach wieder herauszusaugen“, sagt Behrend.

Im Jahr 2017 wurden zu dieser Idee die ersten vielversprechenden Versuche gefahren. Das Team entschied sich schließlich für Muschelkalk. Sand hätte den Nachteil, dass er feucht werden kann und dann schwer zu bewegen ist. Kies wiederum wäre durch seine runden Körnchen schwierig abzusaugen. Splitt ist optimal: Die Korngrößen von 2-5 mm passen perfekt, und auch nass ist er leicht rüttelbar. Auf der Baustelle ist der Saugbagger mittlerweile wieder flott. Wie ein U-Boot zieht er im Dunkeln unter der Betonplatte seine Kreise, von den Arbeitern aufmerksam am Bildschirm verfolgt. Dieter Rannert, ebenfalls Oberbauleiter, führt an den langen Plastikschläuchen entlang. Sie führen zu einem Lkw mit einem gewaltigen Aufsatz. „Im Innern des Fahrzeugs befinden sich zwei Turbinen“, erklärt Rannert und fügt an:
„Sie erzeugen ein Luftstrom, der 44.000 m3 Luft binnen einer Stunde durch den Schlauch saugt oder pustet. Wenn Sie diesen Schlauch zu Hause in ihr Zimmer halten, dann verschiebt es das gesamte Mobiliar.“
Bauteile aus dem Seilbahn- und Segelbootbau
Bei den Schläuchen mit nur 80 mm Durchmesser handelt es sich um Sonderanfertigungen. Sie müssen nicht nur saugen, sondern auch spülen können. Überhaupt zeigte das Team beim Eigenbau des Saugbaggers viel Kreativität und interdisziplinäres Denken, wie Dieter Rannert festellt: „Einige unserer Bauteile stammen aus dem Seilbahnbau oder dem Segelsport. Der selbstgebaute Saugschlitten ist ein derart flaches Modell, er passt in einen nur 10 cm hohen Hohlraum – so etwas gibt es nicht zu kaufen.“ Auch die Art des Antriebs musste ausprobiert werden, immer wieder fährt der Sauger bis zu 40 m weit in den Spalt, saugt den Kies ab und kommt auch wieder zurück. Er bewegt sich dabei durch die Kraft des Saugstroms und wird über ein Drahtseil wieder herausgezogen.
Der Saugschlitten ist mit einer Kamera ausgestattet. Für reine Erkundungsfahrten gibt es noch ein kleines Fahrzeug mit installierter Kamera, das sich unter der Platte ferngesteuert bewegen lässt. Ein Bauarbeiter steuert über diese Kamera den Saugbagger unter der Platte. Das ist gar nicht so einfach: Im schmalen Spalt unter der riesigen Betonplatte kann man sich schnell verfahren.

Als Dieter Rannert die etablierten Hersteller nach einer solchen Saugerlösung anfragte, sagten die nur: Was ihr da vorhabt, funktioniert niemals! Der Spalt sei einfach zu klein. „Wir waren uns aber sicher, dass es funktioniert“, so Rannert. Für ihn ist der Saugbagger letztlich ein Beispiel dafür, was man erreichen kann, wenn man alle Möglichkeiten bestehender Technik ausreizt und auch für unorthodoxe Lösungen offen ist. „Trial and Error, das war unser Prinzip“, sagt Rannert und erklärt damit auch sein Verständnis von Innovation.
„Es geht nicht immer nur um Hightech, sondern auch um das, was man aus bestehenden und selbstgebauten Mitteln im Optimum erreichen kann.“
Eine Frage war zum Beispiel, mit welchem Tempo der Saugbagger unterwegs ist. Anfangs war er entweder zu schnell oder zu langsam und blieb daher immer wieder unter der Platte stecken. Ihn dann wieder frei zu bekommen, dauerte oft sehr lange. „Da haben wir über die Zeit viel gelernt“, erinnert sich Rannert. Für das Absaugen des ersten Blocks der Bodenplatte benötigte sein Team noch drei Wochen – beim neunten Block war es nur noch eine Woche.
Das Produkt ist mittlerweile so ausgereift, dass sich Dieter Rannert auch den Einsatz auf anderen Baustellen vorstellen kann.