Mit VirtuRail® autonom ins Herz des Tunnels
Es ist ein warmer Tag im Juni 2018 in den Tiroler Alpen. Doch davon ist im Erkundungsstollen für den Brenner Basistunnel wenig zu spüren. Die von Lampen beleuchteten Spritzbetonwände geben eine angenehme Kühle ab. Am Betonboden sammelt sich die Feuchtigkeit des Bergs. Dann tauchen zwei Lichtkegel im Dunkeln auf: Mit rund 20 km/h fährt „Christl“ vorbei, ein Zug mit fünf Waggons. Ihr Ziel ist die Tunnelbohrmaschine, die sie mit Betonfertigteilen – sogenannten Tübbingen – versorgt. Gleise braucht Christl dank des selbststeuernden VirtuRail®-Systems keine. Das macht sie zur Weltneuheit, die dem Tunnelbau bei STRABAG eine weitere Innovation hinzufügt.

Selbststeuernde und gummibereifte Züge
Heute blicken Bereichsleiter Christian Kaiser und Tunnelbohrmaschinen-Bauleiter Sebastian Grüllich zufrieden auf ihre Arbeit mit Christl zurück. Gemeinsam mit ihrem Team haben sie den Vortrieb für den 15 km langen Erkundungsstollen wie auch die weiteren 30 km langen Tunnelbauwerke am Baulos Tulfes-Pfons umgesetzt. Eine wichtige Rolle spielte dabei das von den STRABAG-Expertinnen und -Experten mit Partnern entwickelte Multi Service Vehicle (MSV).
„Damit konnten wir erstmals eine ununterbrochene Versorgung der Tunnelbohrmaschine mit rund 55 m langen, selbststeuernden Zügen realisieren“, schildert Sebastian Grüllich. Die vom Logistiksystem-Spezialisten ROWA gelieferten Fahrzeuge sind gummibereift – ein praktischer Ansatz, der die Installation und den Betrieb von Gleisen überflüssig macht.
Smartes Zugsystem sorgt für Rekorde
Die fünf aneinander gekoppelten Waggons können ohne Umladen 95 t Material vom Tunnelportal zur Tunnelbohrmaschine transportieren. Zum Vergleich: Standard-MSVs schaffen eine maximale Nutzlast von 55 t. „Die Züge haben einen großen Anteil am erreichten Vortriebsweltrekord von 61,04 m in 24 Stunden“, sagt Grüllich stolz. Eine weitere Besonderheit des Zugsystems ist die Überwindung von 12 % Steigung über eine Strecke von mehr als 2 km.
Das war auch der Anstoß für die Entwicklung der Züge: Das Gefälle machte eine gleisgebundene Versorgung unmöglich. „Die bisher am Markt verfügbaren MSVs kamen wegen ihres mangelhaften Spurverhaltens sowie ihren zu kleinen Dimensionen nicht infrage. Deshalb brauchte es eine neue Lösung“, erklärt Christian Kaiser. Insgesamt arbeitete das Team vier Jahre an der Maschinenentwicklung.
Auf der virtuellen Schiene sicher durch den Berg
Zurück zum Juni 2018: Ihren Start-Bahnhof hat Christl am Tunnelportal. Hier übernimmt das Team die Beladung. Spritzbeton, Felsanker, Bewehrungsmatten, Betonfertigteile – alles findet im Zug Platz. Dann geht Christls rund einstündige Reise zur Tunnelbohrmaschine los. Ein Lenkrad sucht man in der Fahrerkabine vergeblich. Das VirtuRail®-System von MobileTronics lenkt sämtliche 18 Achsen elektronisch, so dass sie präzise einer virtuellen Schiene folgen.
Ein zusätzliches Fahrerassistenzsystem steuert automatisch die erste Achse im Tunnel. Zudem erkennt es durch modernste Navigationssensorik mögliche Hindernisse. So gelangt der Zug sicher durch die 90-Grad-Kurve am Ende des Zugangstunnels.
Joystick statt Lenkrad in der Fahrerkabine
Die Fahrerin oder der Fahrer kontrolliert im automatischen Modus nur die Geschwindigkeit und teilt dem System via Joystick mit, in welchem Tunnelabschnitt sich das MSV gerade befindet. „Bis zum Projektende konnten 250.000 km Versorgungsfahrten ohne einen einzigen Unfall zurückgelegt werden“, gibt Christian Kaiser zu Protokoll. Das ist nicht zuletzt aufgrund der schwierigen Bedingungen bei Untertagtransporten wie der Staub- und Feuchtigkeitsentwicklung sowie der mechanischen Belastungen der Gerätschaften eine beachtenswerte Bilanz.
„Außerdem verringerte der Einsatz von insgesamt sechs MSVs den Kraftstoffverbrauch sowie die Abgasbelastung im Tunnel gegenüber anderen bekannten Versorgungskonzepten, zum Beispiel mit LKWs“, resümiert der Bereichsleiter. Neben den Langzügen Annemarie, Christl und Emma waren auch die Kurzzüge Bärbel (Eigenrettung), Dorli (Sondertransporte) und Florian (Fremdrettung-Feuerwehrzug) im Betrieb.
Erste autonome Versorgungsfahrt der Welt
Kann das selbststeuernde Gefährt gänzlich führerlos fahren? Den Beweis lieferte eine beeindruckende Demonstration im Dezember 2018. Für die erste vollständig autonome Versorgungsfahrt wurde die Technik auf dem Zug durch elektronische „Verkehrsschilder“ im Brenner Basistunnel ergänzt. Von diesen Schildern las das MSV seinen Standort ab und definierte danach die Parameter für den nächsten Fahrtabschnitt.
„Ich war damals überrascht, wie geschmeidig der führerlose Zug fährt. Auch mit den anderen im Tunnel aktiven Fahrzeugen interagierte das MSV perfekt“, erinnert sich Grüllich. „Das Experiment war ein voller Erfolg und zeigte das Potenzial des autonomen Fahrbetriebs. Im Rahmen der Arbeiten im Erkundungsstollen des Brenner Basistunnels blieb es allerdings bei dieser einmaligen Demonstration. „Da das Vortriebsende bereits in Sicht war, hätte sich der Sprung zum autonomen Fahren im Vollbetrieb nicht ausgezahlt“, erklärt Grüllich.
Elektrischer Antrieb als nächster Schritt
Für die Zukunft spielt dieses Ergebnis jedoch eine wesentliche Rolle. „Künftig könnte die gesamte Materiallogistik per Fernüberwachung mittels eines zentralen Leitstands erfolgen“, meint Christian Kaiser. „Das wäre speziell auf größeren Baustellen mit mehreren Tunnelbohrmaschinen eine Riesenchance.“ Den nächsten Schritt in der Entwicklung der Multi Service Vehicles sieht der Experte in der Umstellung auf einen elektrischen oder hybriden Antrieb.
STRABAG und der Brenner Basistunnel
Das 45 km lange Baulos Tulfes-Pfons ist ein Teil des Bauprojekts für den Brenner Basistunnel (BBT) – der längsten unterirdischen Eisenbahnverbindung der Welt. Am nordöstlichen Ende des Tunnels gelegen, reicht es von der Gemeinde Tulfes bis nach Pfons am Brenner. Neben dem Haupt- und dem Verbindungstunnel errichtet die Arbeitsgemeinschaft von STRABAG und Salini-Impregilo hier weitere Bauwerke wie einen Erkundungsstollen und eine Nothaltestelle. Das Projektvolumen für dieses Baulos beläuft sich auf rund 380 Mio. €.
Mehr Infos: bbt-se.com
Christl hat mittlerweile den Nachläufer der Tunnelbohrmaschine erreicht. Hier muss das Fahrzeug exakt mittig einfahren. Dann lädt das Team die tonnenschweren Tübbinge mit Kranen binnen 30 Minuten ab. Außerdem wandern die leeren Spritzbetonkübel zurück in die Waggons. Christl macht sich auf den Rückweg zur Baustelleneinrichtungsfläche. Die nächste Runde kann beginnen – und bald sicher auch das nächste Tunnelprojekt.